Klause

Es ist keine Kunst, das zu achten, was Du für Deinesgleichen hälst.

Die Kunst besteht darin, auch das zu achten und zu respektieren, was anders ist als Du.

Armes Land

von

f. s. montanus

Fassung vom 13. Dezember 2015

62708 — das ist ihre Nummer. Einen Namen hat sie nicht. Namen sind in der Welt, in der sie lebt, nicht vorgesehen. Namen werden hier nicht gebraucht. Sie sind unnötig, verzichtbar, irrelevant. Respekt und Menschlichkeit können wegoptimiert werden. Ohne geht es wesentlich besser.

62708 liegt in ihrem Stall und säugt ihre Kinder. Erst gestern hat sie sie zur Welt gebracht, und jetzt hängen sie nebeneinander aufgereiht an den Zitzen ihrer Mutter. Sie saugen, um groß und stark zu werden. Sie wissen nicht, dass sie nur saugen, um schon in wenigen Monaten die Teller der Menschen zu füllen. Denn dafür ist 62708 auf der Welt: um möglichst viele Ferkel zur Welt zu bringen, damit der Hunger der Menschen nach Schweinefleisch gestillt wird. Das ist die Rolle, die die Menschen ihr zugedacht haben. Namen braucht es dazu nicht. Warum auch?

Die Mutter ist eingezwängt in ein Eisengitter, damit sie ihre Kinder in der Enge der Stallbox nicht aus Versehen erdrückt. Das Eisengitter lässt ihr keinen Platz, sich zu bewegen. Sie kann kaum vor oder zurück, kann sich nicht herumdrehen, sie kann nur stehen oder liegen. Mehr geht nicht. So eingepfercht verbringt sie einen großen Teil ihres an Entbehrungen reichen Lebens.

Ab und zu laufen Arbeiter an der kleinen Stallbox vorbei, schauen nach den Ferkeln, hier und da schaffen sie ein Jungtier weg, das verendet auf dem dreckigen Boden liegt. Nach ein paar Tagen kommen sie, greifen sich die männlichen Ferkel und schneiden ihnen ohne jede Betäubung die Hoden weg. Die Kleinen strampeln und zappeln wie verrückt, sie schreien wie am Spieß, der Lärm geht einem durch Mark und Bein. Aber das hilft ihnen alles nichts. Der feste Griff der Arbeiter ist unerbittlich, und das Geschrei macht ihnen scheinbar nichts aus. Ob sie bei ihrer blutigen Arbeit an den großen Descartes denken, den Mechaniker unter den berühmten Philosophen, für den das Schreien eines gequälten Tieres nicht mehr war als das Quietschen eines Rades? Aber nein. Sie denken wohl eher an gar nichts. Für sie ist es nur eine Arbeit, und sie machen sie schon so lange, dass sie gar nichts Besonderes mehr dabei empfinden. Sie sind völlig abgestumpft gegen die Leiden der Tiere. Der Mensch gewöhnt sich sehr schnell an Grausamkeiten, zumal, wenn sie von oben angeordnet werden. Das erste Mal mag noch Überwindung kosten, aber danach fällt es immer leichter. Es wird zur Routine. Das funktioniert im Schweinestall genauso gut wie im Gefangenenlager.

Aber der Gedanke an Descartes, der in einem Tier nichts anderes als einen raffinierten Mechanismus gesehen hat, ist vielleicht gar nicht so verkehrt. Denn die Eigentümer von 62708 sehen in ihr schon lange kein Tier mehr. Das Tier in ihr ist tot, seitdem die Menschen den Prinzipien der Effizienz und der Kostenreduktion verfallen sind. Es ist die einzige Art von Rationalität, die die Menschen noch kennen. Jetzt ist 62708 nur noch eine Maschine. Eine Gebärmaschine, in die alle paar Monate Sperma hineingepumpt wird, und aus der einige Zeit später Ferkel herauspurzeln. Mit Hormonen wird sie auf Empfängnis eingestellt, mit Hormonen wird die Geburt eingeleitet, sie wird perfekt eingetaktet wie ein Uhrwerk. Alles, was sie tun muss, ist: funktionieren. Mehr wird von ihr nicht erwartet. Achtung und Respekt gegenüber einem Nutztier? Das ist ganz und gar unnötig. Eine Maschine aus Blech und Drähten respektiert man ja auch nicht.

Doch 62708 ist nicht nur selbst zu einer Maschine geworden. Sie ist überdies Teil einer noch gigantischeren Maschine. Nur vordergründig produziert diese Maschine Fleisch. Ihre eigentliche Aufgabe ist eine andere: sie macht aus möglichst wenig Geld mehr Geld. Das ist der ganze Trick. Der wesentliche Grund ihrer Existenz. Nicht das Fleisch, das könnte man auch anders bekommen, sondern das billige Fleisch, aus dem die Produzenten und die Händler den maximalen Gewinn herausholen. Da ist für das Tier kein Platz, und auch nicht für den Menschen. Da gibt es nur noch Zahnräder — und Geldströme, die die Zahnräder am Laufen halten. Alle — die Sauen, die Ferkel, die Arbeiter, die Stallbesitzer, die Händler — sind nur Rädchen im großen Räderwerk der Fleischproduktion, und sie drehen sich nur, weil Ströme von Geld sie am Laufen halten.

In dieser ökonomischen Hölle ist eine Sau kein Tier, sondern ein Ding, das Geld frisst, in das man Geld hineinpumpt, und aus dem dann Geld herauspurzelt. Man muss nur dafür sorgen, dass das Geld, das am Ende herauskommt, mehr ist als das, was man hineingesteckt hat. Die Sau ist nichts anderes als eine Maschine zur Vermehrung von Geld.

In dieser Logik ist der ideale Schweinezüchter kein Bauer, sondern ein Kaufmann, der sich bestens mit der Optimierung von Bilanzen auskennt. Er weiß, wie man die Kosten senkt und die Gewinne steigert. Natürlich muss auch er Ahnung von den Eigenheiten der Schweinezucht haben. Er muss seine Produkte und seine Märkte kennen. Aber er muss kein Bauer sein. Die Expertise, die ihm fehlt, kann er bei Bedarf zukaufen.

Womit so ein Kaufmann das Wunder der Geldvermehrung bewerkstelligt, kann ihm im Grunde herzlich egal sein. Das können Schweine sein, das können Kühe sein, oder Arbeiterinnen in einer Textilfabrik in Bangladesh, das spielt für den echten Kaufmann keine besondere Rolle. Er macht mit allem Geld, womit Geld zu machen ist. Dafür ist er der Experte. Ihn interessieren nur die Zahlen. Mehr ist nicht von Bedeutung.

Nicht auszuschließen, dass mancher Kaufmann vielleicht auch ein Gewissen haben kann. Dass er nicht nur leuchtende Augen bekommt, wenn er irgendwo hohe Gewinnmargen entdeckt, sondern nachdenklich wird und sich fragt, zu wessen Lasten diese Gewinne erwirtschaftet werden. Aber viel helfen wird ihm das schlechte Gewissen nicht. Er muss das Spiel mitspielen, wenn er nicht untergehen will. Wenn ein Konkurrent auf Kosten von Tieren, Mitarbeitern oder Umwelt wirtschaftet, steht er unter dem enormen Druck, es ihm gleichzutun. Tut er es nicht, läuft er Gefahr, unterzugehen, und seine Marktanteile werden von seinen weniger mitfühlenden Konkurrenten übernommen. Das ist der Fluch eines freien, entfesselten Marktes. Es ist ein ökonomisches surviving of the fittest, der pure Darwinismus. Glücklich der, der nicht dem freien Spiel der Kräfte ausgeliefert ist, der noch menschlich sein darf, weil er im Schutze sinnvoller Regeln lebt und wirtschaftet. Im Schutze von Regeln, die die Unmenschlichkeit von vorneherein unterbinden.

62708 liegt in ihrem Stall und weiß nichts von alledem. Sie gebiert Ferkel über Ferkel, das ist ihr einziger Lebenszweck. Ihre Kinder landen auf den Tellern der Menschen, doch auch davon weiß sie nichts. Wenn sie ausgebrannt ist, wenn ihre Leistung nachlässt, wird sie ihren Kindern folgen. Dann wird das, was von ihr noch übrig ist, restverwertet. So macht man das mit einem Tier, das nicht mehr gebraucht wird. Es wird in Geld verwandelt, bis nichts mehr geht. Mit kalter Konsequenz wird auch noch der letzte Euro aus ihm herausgeholt.

Das ist das Schicksal einer ganz normalen Sau in Deutschland. Einem Land, das reich ist gemessen am Geld, aber arm gemessen an der Menschlichkeit.