Klause

Es ist keine Kunst, das zu achten, was Du für Deinesgleichen hälst.

Die Kunst besteht darin, auch das zu achten und zu respektieren, was anders ist als Du.

Der Gelehrte, der nicht selten log
und dabei gut verdiente

von

f. s. montanus

Fassung vom 28. Februar 2016

Vor langer, langer Zeit, als die Menschen noch nicht nur an sich selber dachten und sich auch um andere kümmerten, sorgten die jungen Menschen mit ihrer Arbeit auch für die Alten, die nicht mehr arbeiten konnten. Viele Jahre lang klappte das auch sehr gut. Eines Tages aber hieß es auf einmal, dass die Jungen immer weniger würden, die Alten hingegen immer mehr, und deshalb würde es nicht mehr lange dauern, bis die Arbeit der Jungen nicht mehr reichen würde, um all die Alten zu versorgen.

Die Menschen überlegten hin und her, doch sie wussten einfach nicht, was sie nun tun sollten. Keiner wusste Rat. Da kam auf einmal ein Gelehrter, der sagte, er habe die Lösung gefunden. Er wisse ganz genau, was zu tun sei. Es sei ganz einfach. Die Menschen müssten selbst für ihr Alter vorsorgen, sagte er. Das sei völlig klar, behauptete er. Einen anderen Weg gebe es nicht, beharrte er. Es sei die einzige Lösung.

Als die Menschen das hörten, waren sie auf einmal sehr beunruhigt. Selbst vorsorgen — wie sollten sie das nur schaffen? Doch der Gelehrte beruhigte sie, indem er ihnen sagte: „Ihr braucht Euch deswegen keine Sorgen zu machen. Denn Ihr habt großes Glück: die Geldverleiher werden Euch dabei helfen. Ihr braucht ihnen nur jeden Monat etwas Geld zu geben, damit sie es für Euch arbeiten lassen. So werdet Ihr für Euer Alter Geld zurücklegen, und das Geld wird sich vermehren. Dann habt Ihr im Alter genug zum Leben.“

Da waren die meisten Menschen bereits ganz beruhigt. Wenn ein Gelehrter so etwas sagte, ein Mann der Wissenschaft, dann musste das ja stimmen, so dachten sie.

Aber nicht alle waren überzeugt. Manche hatten Zweifel. Der Gelehrte brauchte sich deswegen jedoch keine Sorgen zu machen. Denn die meisten Zeitungsschreiber waren auf seiner Seite. Man weiß bis heute noch nicht genau, warum. Aber es war so. Sie hatten keine Zweifel. Sie waren schnell von der Idee überzeugt und trommelten dafür. So wurden die Köpfe der Menschen von früh bis abends durchgespült, über Wochen und Monate hinweg, bis kein Zweifel mehr übrig blieb. Man muss eine Sache eben nur oft genug wiederholen, schon wird sie zur Wahrheit. Das geht auch dann, wenn sie falsch ist, wie sich jeder denken kann, der die Menschen kennt.

Der Vorschlag des Gelehrten drang bis zum zuständigen Minister, so dass auch er davon erfuhr. Er lud den Gelehrten ein, um alles aus erster Hand zu hören. Der Gelehrte kam und erklärte seine Idee. Der Minister war begeistert. Gleich wies er seine Beamten an, ein Gesetz zu schmieden, das den Ratschlag des Gelehrten umsetzen sollte. Auch die Regierung war schnell überzeugt, und so wurde es beschlossen.

Jetzt waren die Menschen ganz beruhigt. Endlich war ihr Alter wieder gesichert, so dachten sie. Doch auch die Lämmer sind ganz beruhigt, wenn sie zur Schlachtbank geführt werden. Ein gutes Gefühl alleine heißt noch lange nicht, dass es auch so kommt, wie man denkt.

Das Dumme war nämlich, dass der Gelehrte den Menschen nicht alles erzählt hatte. Er hatte ihnen nicht erzählt, dass sie nun viel mehr Geld für das Alter ausgeben mussten als früher, weil sie nun auch noch für die Gewinne der Geldverleiher arbeiten mussten. Die lenkten nämlich einen nicht unbedeutenden Anteil in ihre eigenen Taschen, die bekanntlich ziemlich tief sind, und in die eine Menge Geld hinein geht. Der Gelehrte hatte den Menschen auch nicht erzählt, dass mit Hilfe der Maschinen wenige Junge so viel leisten konnten wie viele Arbeiter in früheren Zeiten, so dass genug Geld da war, um die zahlreicher werdenden Alten zu versorgen, dass man es aber gerechter zwischen Arm und Reich verteilen musste. Schließlich hatte er ihnen nicht erzählt, dass viele Millionen Menschen, die nur wenig verdienten, gar nicht genug Geld zurücklegen konnten, um für ihr Alter vorzusorgen, selbst wenn sie es wollten, und dass sie im Alter in Armut leben würden.

Statt dessen erzählte der Gelehrte den Menschen, dass niemand Sorge haben müsse, im Alter arm zu sein, wenn nur jeder seinem Vorschlag folgen und vorsorgen würde. Das System sei perfekt. Jeder könne dabei mitmachen. Auch die, die wenig verdienten. Auch eine kleine Menge Geldes, jeden Monat zurückgelegt, sei schon sinnvoll. Es sei eine rundum gute Sache.

Eines Tages erkundete ein Mädchen die Räume in einem großen Gasthaus und kam dabei zufällig in einen Saal, in dem gerade der Gelehrte zu den Geldverleihern sprach. Das Mädchen erkannte den Gelehrten, über den zu dieser Zeit viel gesprochen wurde. Doch irgendwie hatte es ein ungutes Gefühl und so versteckte es sich, damit niemand seine Anwesenheit bemerkte.

So hörte es, wie einer der Geldverleiher den Gelehrten fragte: „Was sollen wir mit den Leuten machen, die nur wenig Geld zurücklegen können? Die werden am Ende doch nie auf eine vernünftige Versorgung im Alter kommen.“

Der Gelehrte sagte jetzt nicht mehr, dass das System perfekt sei. Statt dessen sagte er: „Das Leben ist kein Wunschkonzert. Es ist doch klar, dass für die, die nur wenig Geld hineinstecken, am Ende auch wenig herauskommt. Das kann sich doch jeder selbst denken. Wenn es zu wenig ist, müssen die Menschen eben sehen, wie sie damit zurecht kommen. So ist das halt im Leben.“

„Aber machen wir den Menschen nicht etwas vor?“, wollte der Geldverleiher wissen. „Immerhin erzählen wir ihnen, dass sie auch mit wenig Geld schon etwas für ihr Alter tun können.“

„Und das stimmt ja auch“, erwiderte der Gelehrte und grinste dabei. „Man muss ja nicht dazu sagen, dass es nicht viel ist, was sie damit für ihr Alter tun. Da müssen sie schon selbst drauf kommen. Es ist doch überall so im Geschäftsleben: der Käufer muss aufpassen. Das gilt auch bei Geldgeschäften.“ Dann fügte er noch wie beiläufig hinzu: „Dass das nicht zu Ihrem Schaden ist, brauche ich Ihnen ja nicht zu erklären.“

Die Geldverleiher lachten, als sie das hörten, aber das Mädchen war ganz erschrocken. Hatte der Gelehrte nicht immer gesagt, die Menschen brauchten sich keine Sorgen zu machen, wenn sie nur auf ihn hören würden? Und jetzt hieß es auf einmal, dass viele auf diesem Weg gar nicht viel tun können für ihr Alter? Wie konnte man nur so furchtbar die Menschen hinters Licht führen?

Das Mädchen lief schnell nach draußen und erzählte allen, was es gehört hatte. Doch wer die Menschen kennt, der ahnt, dass sich diese Geschichte nicht zum Guten wendet. Denn die Leute sagten: „Kind, das kann nicht sein. Du musst Dich verhört haben. Der Herr Gelehrte hat das bestimmt nicht so gesagt. Er ist doch ein Mann der Wissenschaft und spricht deshalb ganz sicher immer die Wahrheit. Außerdem bist du noch zu jung und verstehst diese Dinge noch nicht.“ Was sie nicht sagten: sie selbst waren in vielen Dingen wie Kinder und verstanden ziemlich wenig von der Welt.

Der Gelehrte, der die Geldverleiher schon seit vielen Jahren kannte, und der von ihnen für seine gefälligen Forschungen und Studien schon lange gut bezahlt wurde, log weiter das Blaue vom Himmel herunter und machte dabei einen guten Schnitt. Mancher andere kluge Mann bemerkte seinen Trick und begann, es genauso zu machen. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann belügen sie die Menschen noch heute.