Klause

Es ist keine Kunst, das zu achten, was Du für Deinesgleichen hälst.

Die Kunst besteht darin, auch das zu achten und zu respektieren, was anders ist als Du.

Gottes angebliche Diener

von

f. s. montanus

Fassung vom 21. August 2016

Vor langer, langer Zeit lebte einmal in einem fernen Landstrich eine arme, alte Bäuerin, die ihr kleines Feld bestellte und Kräuter in den umgebenden Wäldern sammelte. Davon lebte sie mehr schlecht als recht, doch sie war bescheiden und mit dem, was sie hatte, zufrieden.

Eines Tages geschah es jedoch, dass ein furchtbares Unwetter über das Land zog, das den Menschen jener Gegend großes Unheil brachte. Hagelkörner, die so groß wie Hühnereier waren, fielen vom Himmel herab und zerschlugen die Früchte auf den Feldern. Binnen weniger Augenblicke war ein großer Teil der Ernte unwiederbringlich verloren.

In allen Dörfern dieser Gegend beklagten die Menschen ihr Unglück. Wo man auch hinkam, überall sah man in den Gesichtern der Menschen die Verzweiflung über das schlimme Unheil, das ihnen widerfahren war.

Die alte Bäuerin aber war nicht von dem Unglück betroffen, denn sie hatte ihr kleines Feld gerade abgeerntet, als der Hagel kam. Zuerst freute sich die Frau, weil sie, die ohnehin nicht viel hatte, von dem Schaden verschont geblieben war. Doch ihre Freude darüber verging schnell, denn bald bekam sie den Neid und das Misstrauen der anderen zu spüren.

Es fing damit an, dass einige Nachbarinnen zusammen standen und eine hinter vorgehaltener Hand flüsterte: „Habt Ihr gesehen? Die Alte am oberen Weg hat keinen Schaden von dem Hagel davongetragen. Wie kann das bloß sein, wo doch selbst die Rechtschaffendsten unter uns so schlimm getroffen wurden?“

„Ich sage Euch: das geht nicht mit rechten Dingen zu“, raunte eine andere bestimmt.

Die übrigen nickten und murmelten zustimmend.

„Aber das ist noch nicht alles“, erzählte die Erste weiter. „Sammelt sie nicht immer so eigenartige Kräuter, die sonst keiner kennt?“

„Wenn das nicht verdächtig ist!“, entfuhr es der Zweiten.

„Gewiss sind diese Kräuter giftig“, fuhr die Erste fort. „Nun frage ich mich: was in aller Welt macht sie mit giftigen Kräutern?“

„Bestimmt nichts Gutes“, erwiderte die Zweite.

„Da fällt mir ein: ist nicht letztes Jahr einem ihrer Nachbarn das Vieh krank geworden?“, warf eine Dritte ein.

Die anderen schauten sich an und nickten.

„Gewiss hat sie dafür die Kräuter gesammelt“, sagte die Dritte weiter.

„Es gibt nur eine Erklärung“, stellte die Erste schließlich fest und sprach damit aus, was auch die anderen dachten. „Da hat der Teufel seine Finger im Spiel. Sie steckt mit dem Leibhaftigen unter einer Decke. Ich sage Euch: sie hat selbst das Unwetter herbeigerufen, nachdem sie ihre eigene Ernte eingebracht hatte. Und der Teufel hat ihr auch gesagt, welche Kräuter sie sammeln soll, um uns und unser Vieh zu vergiften.“

So redeten die Menschen, und es dauerte nicht lange, da kamen Soldaten aus der nahen Stadt zu dem Haus der alten Bäuerin. Sie verhafteten die Frau und schafften sie in den Kerker der Stadt. Noch am gleichen Tag saß man zu Gericht über sie. Ein Tribunal von Geistlichen beschuldigte die Frau der Hexerei und des Schadenszaubers. Wortreich führte der Ankläger aus, die Frau habe ein Bündnis mit dem Teufel geschlossen, um ihren Mitmenschen zu schaden und das Böse in die Welt zu bringen. Am Ende wurden ihr die Folterinstrumente gezeigt, und sie wurde aufgefordert, alles zu gestehen.

„Ich bin unschuldig“, beteuerte die alte Frau unter Tränen. Wieder und wieder flehte sie darum, dass man ihr glauben möge. Sie habe wirklich nichts Böses getan. Doch alles Bitten und Flehen war umsonst. Die Geistlichen ließen sich nicht erweichen. Unter der Folter brach die Frau rasch zusammen und gestand alles, was man ihr zur Last gelegt hatte, und noch einiges mehr, nur um die furchtbare Peinigung nicht mehr länger erleiden zu müssen.

Nachdem das Gericht die alte Bäuerin auf diese „unzweifelhafte Weise“, wie man es nannte, der Hexerei überführt hatte, wurde sie zum Tod durch das Feuer verurteilt. Da an dem darauffolgenden Sonntag ein großer Feiertag war, zu dem viele Menschen in der Stadt erwartet wurden, beschlossen die Richter, die Verbrennung solle zur Ehre Gottes an diesem Tag stattfinden.

Am Tag vor der angesetzten Hinrichtung geschah es nun, dass ein Fremder in die Stadt kam. Er ging geradewegs in den Dom, in dem die Geistlichen, die über die Frau zu Gericht gesessen hatten, zum Gebet versammelt waren.

„Ich habe gehört,“ sagte der Fremde zu den Geistlichen, nachdem diese ihr Gebet beendet hatten, „dass es in dieser Gegend ein schreckliches Unwetter gegeben hat.“

„Ja“, erwiderte einer der Priester, „unsere Bauern haben fast die ganze Ernte verloren. Und denkt Euch nur: das alles war das Werk einer Hexe!“

„Einer Hexe?“, fragte der Fremde ungläubig.

„Ja, einer Hexe. Nacht um Nacht hat sie mit dem Teufel getanzt, und dann rief sie das Unwetter.“

„Wirklich?“

„Aber ja! Wir haben sie überführt. Erst wollte sie ihre Verbrechen nicht zugeben, aber dann hat sie alles gestanden. Morgen wird sie für ihre Untaten im Feuer büßen. Dann ist dem Willen Gottes genüge getan.“

„Woher wisst Ihr denn, dass es der Wille Gottes ist, dass diese Frau im Feuer sterben soll?“

„Nun, das ist doch offensichtlich. Die Frau ist eine Hexe. Sie muss im Feuer sterben.“

„Aber es könnte doch sein, dass das gar nicht der Wille Gottes ist. Dass Ihr diese Frau gegen den Willen Gottes zum Tod durch das Feuer verurteilt habt.“

„Das kann nicht sein, mein Sohn“, entgegnete der Älteste unter den Geistlichen. „Das würde Gott nie und nimmer zulassen.“

„Woher wollt Ihr das wissen?“, fragte der Fremde zurück. „Vielleicht ist es eine Prüfung Gottes, und er will sehen, ob Ihr Euch für den richtigen Weg entscheidet.“

Als die Geistlichen das hörten, wechselten sie finstere Blicke miteinander.

„Aber wir sind auf dem Weg Gottes“, versuchte es der Älteste von ihnen noch einmal. „Wer könnte das bezweifeln? Wir haben das Wort Gottes studiert. Wir sind seine gehorsamen Diener, die bescheidenen Werkzeuge seines Willens.“

„Woher nehmt Ihr diese Gewissheit? Woher kennt Ihr die Wege Gottes? Vielleicht habt Ihr alle schon längst den Weg Gottes verlassen, vielleicht seid Ihr schon alle dem Teufel anheimgefallen und, ohne es zu ahnen, zu seinen Werkzeugen geworden.“

„Das, was Ihr da sagt, ist Gotteslästerung“, begann einer der Geistlichen zu schimpfen.

„Ich lästere nicht Gott“, entgegnete der Fremde ruhig. „Ich übe nur Kritik an einfachen, sterblichen Menschen, die glauben, auf dem richtigen Weg zu gehen, obwohl sie doch alle irren können.“

„Er meint, wir hätten ein Fehlurteil getroffen, und Gott hätte das zugelassen!“, rief ein anderer Geistlicher. „Das ist Gotteslästerung! Packt ihn!“

Als der Priester das gesagt hatte, versuchten einige Umstehende den Fremden zu ergreifen und gefangen zu nehmen. Doch da geschah etwas Seltsames. Der Fremde wurde mit einem Mal viel größer, und er breitete ein Paar riesiger Flügel aus. Feuer loderte aus seinen Augen. Schließlich stoben die Flammen aus seinem ganzen Körper heraus.

Die, die ihn gepackt hatten, schrieen auf vor Schmerz. Voller Wehklagen ließen sie von ihm ab.

„Ihr wagt es, mich anzugreifen?“, stieß der Engel mit einer verwandelten, angsteinflößenden Stimme hervor. „Man sollte Euch alle verbrennen.“

Er richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Die Menschen um ihn herum erstarrten vor Angst.

„Wenn der alte Gott, der Vater, noch da wäre, dann würde es Euch allen an den Kragen gehen. Aber Ihr habt Glück. Er hat sich schon vor langer Zeit zurückgezogen. Jetzt hat sein Sohn das Sagen. Und der möchte nicht, dass Euch ein Haar gekrümmt wird. Obwohl Ihr es wirklich verdient hättet.“

Der Engel schaute mit seinen lodernden Augen einen nach dem anderen an.

„Hört gut zu!“, befahl der Engel den Menschen, und er sagte es zu allen Menschen, denn jeder, wo er auch war, hörte die Stimme des himmlichen Boten in seinem Kopf. „Ab sofort weht ein anderer Wind. Jeder, der die Frechheit hat zu behaupten, den Weg Gottes zu kennen, wird es bitter bereuen. Schon der Gedanke daran, den Weg Gottes gefunden zu haben, wird unnachgiebig bestraft. Gott wird diese Anmaßung nicht mehr länger dulden. Wenn er sich Euch offenbaren will, so wird er das allen Menschen gegenüber tun, nicht gegenüber einem Einzelnen oder Wenigen. Gott wird nicht mehr länger zulassen, dass Leute herumgehen und sagen: Gott will dies, Gott will das. Damit ist es jetzt vorbei.“

In diesem Moment loderten die Flammen so hell auf, dass alle Umstehenden aufschrieen und sich schützend die Arme vor das Gesicht hielten. Als sie kurz darauf die Arme wieder senkten, war der Engel verschwunden.

Von da an bekam jeder Mensch, der auch nur im Ansatz glaubte, den Weg Gottes gefunden zu haben, für drei ganze Tage die schlimmsten Bauchkrämpfe, die man sich nur denken kann. Es dauerte nicht lange, und die Menschen waren von jeglicher religiösen Eiferei für immer kuriert.

Die Bäuerin aber wurde freigelassen und für das ihr angetane Unrecht entschädigt, so gut man das mit Geld überhaupt konnte. Sie verkaufte ihr Hab und Gut und zog in ein anderes Dorf, wo sie bis an das Ende ihrer Tage in Frieden lebte.